Wie lange kann sich die Schweiz den Poker mit der EU noch leisten?

Vor einem Jahr hat der Bundesrat die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen abgebrochen. Seither hat die EU ihre Position weiter verschärft. Und auch der Bundesrat kann ohne Gesichtsverlust kaum mehr zurück. Wer gibt zuerst nach? Wir übernehmen hier den Kommentar von Stefan Schmid, Chefredaktor des des «St. Galler Tagblatt». 

Man ist freundlich zueinander. Und die Schweizer klammern sich an jeden Strohhalm. Der deutsche Vizekanzler Robert Habeck hat am WEF in Davos zwei Bundesräten auf die Schultern geklopft und versprochen, er wolle sich in Brüssel für eine Einigung mit der Schweiz einsetzen. Wunderbar. Dasselbe hat man jahrelang von Österreichs Alt-Kanzler Sebastian Kurz gehört. Genützt haben derlei Gefälligkeitsgesten in aller Regel nichts.

Die EU hat ihre Position im Kern gegenüber Bern seit Jahren nicht mehr verändert. Über den bilateralen Verträgen braucht es ein institutionelles Dach, das die wichtigsten Fragen regelt. Streitbeilegung, Übernahme von EU-Recht, fairer Wettbewerb. Der Bundesrat hat die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen vor einem Jahr einseitig abgebrochen. Seither weiss in der strategisch orientierungslosen Regierung niemand mehr so recht, wie es weitergehen soll.
Die bilateralen Verträge sind zwar alle in Kraft, doch sie werden nicht mehr aufdatiert. Wie ein Handy, das kein Update des Betriebssystems mehr erhält. Sie verlieren sukzessive an Bedeutung. Die Schweiz droht vom Zugang zum EU-Binnenmarkt schrittweise abgeschnitten zu werden – und damit Wohlstand einzubüssen.

Die Sackgasse ist perfekt, denn nicht nur die EU weigert sich, Konzessionen zu machen. Auch die Schweizer Regierung kann ohne Gesichtsverlust nicht mehr zurück. 

Warum sollte sie ein Jahr nach dem Verhandlungsabbruch plötzlich denselben, teils noch weitergehenden Forderungen Brüssels zustimmen, die sie vor einem Jahr noch verworfen hat?

Auch ausserhalb des Bundesrats gibt es keine Allianz, welche das bilaterale Schiff wieder in Bewegung setzen könnte. Mitte-Chef Gerhard Pfister ist ein Gegner einer institutionellen Anbindung. Er fantasiert stattdessen von einem föderalen Europa, in Anlehnung an eine kürzlich ventilierte Idee des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Und übersieht dabei geflissentlich, dass Frankreich mit dieser Initiative Länder wie Nordmazedonien oder die Ukraine geopolitisch an Europa binden möchte – und sicher nicht den wirtschaftlich integrierten und reichen Schweizern einen billigen Ausweg aus der selbst gewählten Krise bieten will.

FDP-Präsident Thierry Burkart wiederum hat seine jüngsten Karriereschritte ganz seinem gut inszenierten und kategorischen Nein zum Rahmenabkommen zu verdanken. Auch er kann ohne Gesichtsverlust den EU-Forderungen nicht zustimmen. Von ihm sind daher kaum ernsthafte Impulse zu einer Wiederannäherung zu erwarten.

Ebenso wenig vom SP-Führungsduo Cédric Wermuth und Mattea Meyer, das vom EU-Beitritt schwadroniert, um davon abzulenken, dass sich die einst europafreundlichen Sozialdemokraten in Geiselhaft der protektionistischen Gewerkschaften befinden. Die SVP derweil kann mit dem Status quo bestens leben, in ihrem Weltbild braucht es die EU ohnehin nicht.

Wie weiter? Guter Rat ist teuer. Die Prognose sei dennoch gewagt: Es bewegt sich noch eine schöne Weile rein gar nichts. Die Positionen sind zu weit auseinander. Die EU hat keinen Anlass, dem kleinen Nachbarn den Schmus zu bringen. Sie ist nicht wirklich auf die Schweiz angewiesen und steht auch nicht unter Zeitdruck.

Umgekehrt sind die Abhängigkeitsverhältnisse eindeutiger. Bloss: Dem Schweizer Wohlstand hat das Nein zu einem Rahmenabkommen bisher nicht geschadet. Und der Wohlstand, das ist die einzige innenpolitische Währung, die zählt. Solange jene 50 Prozent der Stimmbürger, die sich am politischen Prozess in der Schweiz beteiligen, nach wie vor das Gefühl haben, es läuft doch auch ohne Rahmenvertrag mit der EU wie geschmiert, wird es nie genügend Druck für ein politisches Entgegenkommen geben.

Klar, der Frosch hockt in der Pfanne und merkt meist zu spät, wenn das Wasser wärmer wird. Die Schweiz aber ist kein Frosch. Ihre Wirtschaft ist dynamisch, anpassungsfähig, oder wie es Staatssekretärin Livia Leu sagt: resilient. Vielleicht, ja vielleicht schafft es das Land wider sämtlicher Prognosen, den Wohlstand auch ohne Update der bilateralen Verträge aufrechtzuerhalten. Es wäre ein Wunder.

Realistischer ist freilich, dass es bald zu einem Schock kommt – etwa im Energiebereich, sollte die Schweiz vom europäischen Markt zunehmend abgeschnitten werden. Spätestens dann wird sich die Einsicht durchsetzen, dass wir wohl gescheiter früher Hand zu einer Lösung geboten hätten, ehe wir als Bittsteller in Brüssel aufkreuzen müssen.

«St. Galler Tagblatt», 25. Mai 2022

 

Reden wir über Europa – ohne Schlagworte!

Im Mai letzten Jahres hat der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU einseitig abgebrochen. Damit ist das Rahmenabkommen vom Tisch. Viele Leute reagierten mit Erleichterung, andere mit Verärgerung. Tatsache ist, dass der Dialog seither blockiert und die Atmosphäre unterkühlt ist. Lösungsansätze werden zaghaft diskutiert.

Als Teil einer grossen Allianz hält es die Bewegung Courage Civil für wichtig, dass wir in unserem Land endlich über Europa reden. Lange, zu lange hat man das Terrain dem nationalkonservativen Lager überlassen. Es braucht eine Diskussion ohne Schlagworte und Lärm, ganz pragmatisch. Wir wirken mit bei der Kampagne «Über Europa reden», mit Persönlichkeiten, die aus Ihrer Erfahrung heraus einen Grund nennen.

Mehr zum Thema gibt es hier bei unserem Allianzpartner von «stark + vernetzt».

Breite Allianz fordert Wiederanschluss der Schweiz an die europäischen Kooperationsprogramme

 

Heute Morgen hat eine breite Allianz aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Politik und Zivilgesellschaft den Mitgliedern des eidgenössischen Parlaments einen Offenen Brief zukommen lassen. Die rund 50 Organisationen (siehe Logos), zu denen die Bewegung Courage Civil zählt, fordern eine rasche Freigabe des Kohäsionsbeitrags sowie den Wiederanschluss der Schweiz an die europäischen Kooperationsprogramme. Nachstehend der Wortlaut des Offenen Briefes. 

„Unser Land wird heute bei allen drei grossen europäischen Kooperationsprogrammen in den Bereichen Forschung (Horizon Europe), Bildung (Erasmus+) und Kultur (Creative Europe) als «nicht-assoziierter Drittstaat» behandelt und bleibt von wesentlichen Teilen ausgeschlossen. Das ist fatal. Bis 2013 war die Schweiz an allen drei Programmen beteiligt und hat diese sehr erfolgreich genutzt.

Insbesondere die Schweizer Forschungslandschaft leidet. Die Zahl der europäischen Projekte mit Schweizer Beteiligung brach bereits 2014 drastisch ein, die Leitung solcher Arbeiten aus der Schweiz heraus wurde gar unmöglich. Auch jetzt können Forschende aus der Schweiz keine Einzelanträge mehr für die begehrten Grants des European Research Council (ERC) einreichen. Vom Wegfall dieser Netzwerke und Finanzierungsquellen sind nicht nur die ETH, die Universitäten und die Fachhochschulen, sondern auch zahlreiche hier ansässige Unternehmen betroffen. Die Schweiz kann zwar mit Auffangmassnahmen die eine oder andere Finanzierungslücke stopfen. Nicht ausgleichen kann sie aber die ebenso wertvollen Vernetzungsmöglichkeiten und die Chance für junge Forschende, mit ERC-Grants von hier aus eigene Projektteams aufzubauen und zu führen.

Durch den Abbruch der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen hat sich die Blockade in der Schweizer Europapolitik weiter vertieft. Umso wichtiger ist es jetzt, das bilaterale Verhältnis mit der EU wo möglich zu normalisieren. Deshalb fordert die Allianz von stark+vernetzt – vertreten durch Organisationen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur, Politik und Gesellschaft – das Schweizer Parlament auf, den zweiten Kohäsionsbeitrag so rasch wie möglich freizugeben.

Helfen Sie uns, die aktuell schon schwierige Situation zu verbessern. Es braucht nun Ihre klaren Voten an den Bundesrat, dass er alles unternimmt, um die Schweiz künftig wieder an allen drei grossen Kooperationsprogrammen als vollassoziierte Partnerin teilhaben zu lassen. Der Alleingang ist keine Lösung.

Was der Bundesrat verpasste, gelingt jetzt hoffentlich einer soliden Allianz

Es war für den Bundesrat ein unendlich langer Weg mit dem Rahmenabkommen, der 2008 begann und jetzt endete. Offensichtlich wurde die Landesregierung sich nie einig, wie sie diesen Brocken anfasst und wohin sie ihn tragen will. Die Entscheidung, die Verhandlungen mit der EU abzubrechen, kommt nicht überraschend, die Art und Weise ist allerdings brüsk. Der Bundesrat schlägt die Türe ohne Not zu. Das hat einen Vertrauensverlust und eine Verhärtung zur Folge.

Die Bewegung Courage Civil bedauert, dass der Bundesrat es in all den Jahren nicht schaffte, eine Allianz für das Rahmenabkommen und einen Plan B zu erarbeiten. Zugleich verweist sie darauf, dass das Volk in den letzten 20 Jahren 12 Mal für ein geregeltes Verhältnis mit der EU gestimmt hat, vom Ja zu den Bilateralen I im Mai 2000 (67.2 Prozent) bis zum Nein zur Begrenzungsinitiative im September 2020 (61.7 Prozent). Eine Mehrheit der Stimmberechtigten hat ein pragmatisches Verhältnis zu europapolitischen Vorlagen entwickelt, sie anerkennen die vielen Vorteile und blenden die Nachteile nicht aus.

Klar ist, dass es keine neuen bilateralen Verträge mehr geben wird, die alten beginnen zu erodieren. So bleibt beispielsweise das seit Langem blockierte Stromabkommen liegen, der Wirtschaftsstandort Schweiz verliert schleichend an Attraktivität.

Wenn irgendeinmal wieder Bewegung in das Verhältnis Schweiz-EU kommen soll, muss der Bundesrat den ersten Schritt machen. Er tritt dann als Bittsteller in Brüssel auf. Diese Position wird schwächer sein, als diejenige, die er in den letzten Jahren hatte. Ob das dereinst als «Reset» bezeichnet werden kann, ist offen.

Wichtig könnte in den nächsten Jahren die Rolle der zivilgesellschaftlichen Organisationen werden. Wenn sie sich zusammen mit der Wirtschaft und der Forschung zu einer soliden Allianz formieren, könnten sie eine ernsthafte Debatte anstossen und so eine Deblockierung der Europapolitik erreichen. Die Bewegung Courage Civil wäre bereit dazu. Das repetitive Absondern von Schlagworten haben wir die letzten Jahre zur Genüge gehört, man sollte das jetzt beenden.

Ergänzendes vom 26. Mai 2021:

– Die offizielle Verlautbarung des Bundesrats inkl. einem 35-seitigen Bericht über die Verhandlungen zum Rahmenabkommen.

– Reaktion der Europäischen Kommission:
> Factsheet: Was geschieht ohne Rahmenabkommen? (PDF)
> Factsheet: Fakten zu den Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz  (PDF)

>>> Wir verweisen zudem auf das ausgezeichnete Interview in der NZZ vom 26. Mai 2021 mit Historiker André Holenstein und Europarechter Thomas Cottier, die soeben zusammen ein neues Buch veröffentlich haben. Titel: «Souveränität der Schweiz in Europa». Das Interview ist hier als PDF hochgeladen: Interview: Holenstein und Cottier über die Souveränität der Schweiz (PDF)

>>> – Das Interview in den Tamedia-Zeitungen vom 29. Mai mit Historiker Thomas Maissen:
«Die Eidgenossenschaft hat sich fürs Durchwursteln entschieden» (PDF)

 

Petition gegen den Abbruch der Verhandlungen mit der EU läuft – unterschreiben, bitte!

 

Es ist ein Trauerspiel: Der Bundesrat hat weiterhin keine Strategie in der Europapolitik. Rund sechs Jahre lang hat die diplomatische Vertretung der Schweiz mit der EU über das institutionelle Abkommen (InstA) verhandelt (auch Rahmenabkommen genannt). Es geht um fünf Marktzugangsabkommen, die künftig dynamisch angepasst werden sollten. Ende 2018 lag der Vertragsentwurf vor, es folgte eine Konsultation, der Bundesrat hat sich noch immer nicht zu einer kohärenten Position geeinigt.

In den letzten Monaten verhandelte die neue Staatssekretärin Livia Leu mit Brüssel auf technischer Ebene, Ende April traf Bundespräsident Guy Parmelin EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, um auf politischer Ebene zu verhandeln. Der Bundesrat macht weiterhin auf Geheimdiplomatie, seine Kommunikation hat – bewusst? – Aussetzer. Immerhin wissen wir dank den Provokationen von EU-Leuten, dass es im beim Vertragswerk um mehr als «Klärungen» geht.

Vieles deutet darauf hin, dass die Landesregierung die Verhandlungen mit der EU abbrechen will. Das kann er selbstverständlich tut. Offen ist, was ein Plan B brächte und wie lange es dauerte, bis dieser vorliegt. Drei Jahre? Fünf Jahre? Zudem stellt sich die Frage, welchen volkswirtschaftlichen Schaden der Status Quo – lies: das Durchwursteln – anrichtet?

Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats ist klar gegen einen Abbruch der Verhandlungen. Drei Mitglieder des Ständerats gehen noch einen Schritt weiter: Andrea Gmür (Die Mitte, LU), Daniel Jositsch (SP, ZH) und Matthias Michel (FDP, ZG) lancierten eine Petition, damit die Verhandlungen mit der EU nicht abgebrochen, sondern in erster Linie auf politischer Ebene weitergeführt werden.

Der Vorstand der Bewegung Courage Civil hat heute entschieden, diese Petition mitzutragen. Der Abbruch der Verhandlungen mit der EU ist keine Option. Dies auch deshalb, weil keine Alternative vorliegt, die aufzeigt, wie die Bilateralen weitergeführt werden könnten.
Ergänzung vom 27. Mai 2021: Die Petition wurde angesichts des Verhandlungsabbruchs beendet und vom Netz genommen.