25 Jahre «Bilaterale» 
 

Die bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) haben eine bedeutende Geschichte, die bis in die frühen Neunzigerjahre zurückreicht. Hier ist eine chronologische Übersicht über die wichtigsten Meilensteine:

1992
Am 6. Dezember lehnt die Schweizer Bevölkerung mit einer historischen Stimmbeteiligung von 78,7% einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) mit 50,3% knapp ab.

Es geht um ein Abkommen zwischen 19 Ländern, darunter auch die Schweiz, zur Schaffung eines gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraums (EWR). Der Kern des Abkommens ist das Verbot der Diskriminierung von Staatsangehörigen anderer Mitgliedsländer. Nationale Vorschriften sollen weiterhin möglich sein, jedoch nur unter der Bedingung, dass sie für alle EWR-Bürger:innen u gleichermassen gelten. Voraussetzung für die Umsetzung dieser «Nichtdiskriminierung» sind die sogenannten vier Freiheiten:

–       freier Warenverkehr,
–       freier Personenverkehr,
–       freier Dienstleistungsverkehr
–       und freier Kapitalverkehr.

Das EWR-Abkommen fördert ausserdem die Zusammenarbeit im Bildungswesen und in der Forschung und sieht für die Bereiche Umweltschutz und Sozialpolitik bestimmte einheitliche Regelungen vor.

Während die Landesregierung, die Mitte-Parteien und die Wirtschaft den Beitritt zum EWR als gangbaren Mittelweg zwischen der bisherigen punktuell-pragmatischen Integrationspolitik und einem möglichen zukünftigen EU-Beitritt betrachten, stiess das Vorhaben bereits während der Verhandlungsphase zwischen 1989 und 1992 von linker und rechter Seite auf erheblichen Widerstand.

Aus der Nachbefragung geht hervor, dass am 6. Dezember 1992 zwei grundsätzliche Vorstellungen über die Schweiz und ihre Zukunft aufeinandertrafen: Die Befürworter des EWR-Abkommens nannten vor allem zwei Motive: kulturelle Öffnung (Ablehnung der Isolation, Wille zur Öffnung) und wirtschaftliche Vorteile. Die gleichen Beweggründe fanden sich auch bei den Gegnern, jedoch mit gegensätzlicher Bewertung.

Zu Beginn der EWR-Diskussion war ein Ja noch möglich. Nach den erfolgreichen Vertragsverhandlungen 1991 war die Mehrheit der Stimmberechtigten positiv gestimmt. Erst im Sommer, als die innenpolitischen Konsequenzen thematisiert wurden und die Gegner:innen früh
ihre Position festlegten, wendete sich das Blatt. Die Befürworter verpassten den Beginn des Abstimmungskampfs …

1993
Die Schweiz beginnt Verhandlungen über bilaterale Abkommen mit der EU, um den Zugang zum europäischen Binnenmarkt sicherzustellen und die Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen zu regeln.

1999
– Unterzeichnung der Bilateralen Abkommen I:

Sieben sektorale Abkommen werden abgeschlossen, darunter:
–       Freier Personenverkehr
–       Technische Handelshemmnisse
–       Öffentliches Beschaffungswesen
–       Landwirtschaft
–       Forschung
–       Landverkehr
–       Luftverkehr

2000
Die Bilateralen Abkommen I werden in einer Volksabstimmung von der Schweizer Bevölkerung am 21. Mai 2000 vom Volk mit 67,2% Ja-Stimmen gutgeheissen. Sie ermöglichen heute der Schweizer Wirtschaft (in Ergänzung zum Freihandelsabkommen) einen weitgehenden Zugang zum EU-Binnenmarkt mit mehr als 445 Millionen möglichen Konsument:innen.

2002
Inkrafttreten der Bilateralen Abkommen I am 1. Juni 2002

2004
Die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über zehn Dossiers, die sogenannten Bilateralen II, begannen im Juni 2002. Die Gespräche über die Dienstleistungsliberalisierung wurden im März 2003 einvernehmlich ausgesetzt, da zahlreiche Punkte noch offen waren. Im Juni 2003 wurde ein bedeutendes Etappenziel mit der politischen Einigung zur Zinsbesteuerung erreicht.

Am 19. Mai 2004 konnte bei einem Gipfeltreffen zwischen der Schweiz und der EU auch in den letzten politisch sensiblen Fragen eine Einigung erzielt werden. Dies betraf den Informationsaustausch bei Fiskaldelikten im Rahmen der Rechts- und Amtshilfe.

Es wurden neun weitere Abkommen geschlossen:
– Schengen/Dublin (Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz, Polizei und Asyl)
– Zinsbesteuerung
– Betrugsbekämpfung
– Umwelt
– Statistik
– Media
– Ruhegehälter
– Bildung, Berufsbildung und Jugend
– Prozesskostenhilfe

2005
Die Bilateralen Abkommen II werden in einer Volksabstimmung von der Schweizer Bevölkerung am 5. Juni 2005 mit 54,6% Ja-Stimmen angenommen.

2008
Formelles Inkrafttreten der Bilateralen Abkommen II a, 1. März 2008

2009
Erweiterung des Abkommens über den freien Personenverkehr auf die neuen EU-Mitgliedstaaten Bulgarien und Rumänien.

2014
Die Schweizer Bevölkerung nimmt in einer Volksabstimmung am 9. Februar 2014 die Initiative «Gegen Masseneinwanderung» mit 50,3% an, was Spannungen mit der EU auslöst.

2016
Das Schweizer Parlament hat eine Umsetzung der Initiative «Gegen Masseneinwanderung» beschlossen, die im Einklang mit den bilateralen Verträgen steht.

Diese Umsetzung wird im Volksmund «Inländervorrang light» genannt. Am 16. Dezember 2016 hat das Parlament das Ausführungsgesetz zu Artikel 121a der Bundesverfassung verabschiedet,
das die Einführung einer Stellenmeldepflicht vorsieht. Diese Pflicht ist im Ausländer- und Integrationsgesetz verankert und soll das inländische Arbeitskräftepotenzial ausschöpfen.

2021
Die Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU scheitern, was die zukünftige Zusammenarbeit unsicher macht.

Diese unterschiedlichen Positionen führten letztlich dazu, dass die Verhandlungen ohne eine Einigung beendet wurden.

Personenfreizügigkeit: Einer der grössten Streitpunkte war die Frage der Personenfreizügigkeit. Die EU bestand auf der vollen Anwendung der Personenfreizügigkeit, während die Schweiz gewisse Beschränkungen beibehalten wollte.

Staatsbeihilfen: Die Schweiz und die EU konnten sich nicht auf gemeinsame Regeln bezüglich Staatsbeihilfen einigen. Die EU wollte eine stärkere Angleichung an ihre Vorschriften, während die Schweiz ihre Unabhängigkeit in diesem Bereich wahren wollte.

Lohnschutz: Der Schutz der Löhne und Arbeitsbedingungen war ein weiterer zentraler Streitpunkt. Die Schweiz wollte ihre bestehenden Lohnschutzmassnahmen beibehalten, um das Lohnniveau und die Arbeitsbedingungen zu schützen, während die EU auf eine Lockerung dieser Regeln drängte.

Dynamische Rechtsübernahme: Die EU forderte, dass die Schweiz neue EU-Rechtsvorschriften automatisch übernimmt, um den Zugang zum Binnenmarkt zu erleichtern. Die Schweiz hingegen war besorgt über den Verlust der eigenen Gesetzgebungsautonomie.

Streitbeilegung: Es gab auch Meinungsverschiedenheiten über die Mechanismen zur Streitbeilegung. Die EU bevorzugte einen Schiedsmechanismus mit Einbeziehung des Europäischen Gerichtshofs, während die Schweiz alternative Lösungen suchte.

Zusätzlich war innenpolitische Druck in der Schweiz erheblich und trug massgeblich zum Scheitern der Verhandlungen mit der EU 2021 bei. Wesentliche Faktoren waren:

Parteipolitische Spannungen: Einige grosse Parteien lehnten eine Annäherung an die EU ab, während andere diese befürworteten.

Volksabstimmungen: Eine Einigung hätte in einer Volksabstimmung bestätigt werden müssen,
was die Regierung vorsichtig machte.

Interessen der Kantone und Wirtschaftsverbände: Unterschiedliche Interessen führten zu widersprüchlichen Positionen bezüglich eines Abkommens.

Medien und öffentliche Meinung: Intensive Berichterstattung und eine polarisierte öffentliche Meinung verstärkten den Druck auf die politischen Entscheidungsträger.

2024
Aufnahme von Neuverhandlungen zu Bilateralen III

Die Bilateralen III umfassen eine Serie von Verhandlungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, die darauf abzielen, die Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen weiter zu vertiefen und anzupassen. Diese am 18. März 2024 aufgenommenen Verhandlungen beinhalten:

Handel: Neue Vereinbarungen zur Erleichterung des Handels und zur Beseitigung von Handelshindernissen, um den Zugang zum EU-Binnenmarkt für Schweizer Unternehmen zu sichern und auszubauen.

Forschung und Innovation: Erweiterung der Zusammenarbeit in Forschung und Entwicklung, um die Teilnahme der Schweiz an EU-Forschungsprogrammen wie Horizon Europe zu gewährleisten und zu fördern.

Sicherheit und Justiz: Vertiefung der Zusammenarbeit in den Bereichen innere Sicherheit, Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität sowie Justizzusammenarbeit, um den Schutz der Bürger zu erhöhen und gemeinsame Sicherheitsherausforderungen zu bewältigen.

Umwelt und Energie: Gemeinsame Initiativen zur Bekämpfung des Klimawandels, zur Förderung erneuerbarer Energien und zur Sicherstellung einer nachhaltigen Energieversorgung.

Digitalisierung: Zusammenarbeit im Bereich der digitalen Transformation, einschließlich der Harmonisierung von Regulierungen und Standards, um Innovation und Wettbewerb zu fördern.

Ziel der Bilateralen III ist es, die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU zu stärken und sicherzustellen, dass beide Seiten von der Zusammenarbeit profitieren. Durch diese Verhandlungen sollen bestehende Abkommen angepasst und neue Vereinbarungen getroffen werden, um den sich wandelnden Anforderungen und Herausforderungen gerecht zu werden.

Juni 2024:
– 25-Jahre-Jubiläum der bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU

– Alain Berset zum Generalsekretär des Europarats gewählt
Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hat Alt-Bundesrat Alain Berset zum Generalsekretär des Europarats gewählt. Er tritt sein Amt am 18. September 2024 an.
Aus der Sicht von Courage Civil kann Berset als Generalsekretär des Europarats die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU positiv beeinflussen. Seine Rolle im Europarat, der sich für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit einsetzt, bietet der Schweiz eine Plattform zur Stärkung des Dialogs und zur Förderung der Zusammenarbeit mit EU-Ländern. Dies könnte das Vertrauen in die Schweizer Diplomatie erhöhen und zukünftige Verhandlungen erleichtern.

Organisationen, die «Europa» als Chance einstufen:

Operation Libero
Plattform stark + vernetzt
Think Thank foraus
Schweizerische Gesellschaft für Aussenpolitik

Organisationen, die Europa-feindlich eingestellt sind:

Pro Schweiz (Früher: Auns)
Komitee selbstbewusste freie Schweiz


ARCHIV

Das Rahmenabkommen:

Das Dossier des Bundes

Es war für den Bundesrat ein unendlich langer Weg mit dem Rahmenabkommen (auch institutionelles Abkommen InstA genannt), der offiziell 2013 begann und am 26. Mai 2021 abrupt endete. Offensichtlich wurde die Landesregierung sich nie einig, wie sie diesen Brocken anfassen will. Die Entscheidung, die Verhandlungen mit der EU abzubrechen, kommt nicht überraschend, die Art und Weise ist allerdings brüsk. Der Bundesrat schlägt die Türe ohne Not zu. Das hat einen Vertrauensverlust und eine Verhärtung zur Folge.

Die Bewegung Courage Civil bedauert, dass der Bundesrat in all den Jahren nicht willens war, eine Allianz für das Rahmenabkommen oder einen soliden Plan B zu erarbeiten. Zugleich verweist sie darauf, dass das Volk in den letzten 20 Jahren 12 Mal für ein geregeltes Verhältnis mit der EU gestimmt hat, vom Ja zu den Bilateralen I im Mai 2000 (67.2 Prozent) bis zum Nein zur Begrenzungsinitiative im September 2020 (61.7 Prozent). Eine Mehrheit der Stimmberechtigten hat ein pragmatisches Verhältnis zu europapolitischen Vorlagen entwickelt, sie anerkennen die vielen Vorteile und blenden die Nachteile nicht aus.

Klar ist, dass es keine neuen bilateralen Verträge mehr geben wird, die alten beginnen zu erodieren. So bleibt beispielsweise das seit Langem blockierte Stromabkommen liegen, der Wirtschaftsstandort Schweiz verliert schleichend an Attraktivität.

Wenn irgendeinmal wieder Bewegung in das Verhältnis Schweiz-EU kommen soll, muss der Bundesrat den ersten Schritt machen. Er tritt dann als Bittsteller in Brüssel auf. Diese Position wird schwächer sein, als diejenige, die er in den letzten Jahren hatte. Ob das dereinst als «Reset» bezeichnet werden kann, ist offen.


Ergänzendes vom 26. Mai 2021:

– Die offizielle Verlautbarung des Bundesrats inkl. einem 35-seitigen Bericht über die Verhandlungen zum Rahmenabkommen.

– Reaktion der Europäischen Kommission:
> Factsheet: Was geschieht ohne Rahmenabkommen? (PDF)
> Factsheet: Fakten zu den Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz  (PDF)

>>> Hinweis auf das ausgezeichnete Interview in der NZZ vom 26. Mai 2021 mit Historiker André Holenstein und Europarechter Thomas Cottier, die soeben zusammen ein neues Buch veröffentlich haben. Titel: «Souveränität der Schweiz in Europa». Das Interview ist hier als PDF hochgeladen: Interview: Holenstein und Cottier über die Souveränität der Schweiz (PDF)

>>> Das Interview in den Tamedia-Zeitungen vom 29. Mai mit Historiker Thomas Maissen:
«Die Eidgenossenschaft hat sich fürs Durchwursteln entschieden» (PDF)


Medienspiegel: Relevante Artikel der letzten Jahre:

Der Bundesrat hat einen Plan – endlich
CH Media, 8. Juni 2019, Doris Kleck

Wie sich das Rahmenabkommen retten lässt (PDF)
Michael Ambühl und Daniela Scherer schlagen ein Abkommen auf Zeit vor, um die bilateralen Verträge zu retten. Ambühl war früher Schweizer Chefunterhändler der Bilateralen II.
Meinungsbeitrag in der NZZ, 25. November 2019