Den Bundesrat vergrössern? Oder eher verkleinern? Und wie kann die Übermacht kleiner Kantone korrigiert werden? Am besten lassen wir zuerst Zufallsbürger darüber beraten, findet Nenad Stojanović in seinem Gastartikel in der heutigen «NZZ am Sonntag», den wir hier aufschalten. Nicht identisch ist der Titel, die Illustration haben wir ausgesucht.
Seit Jahrzehnten wird in der Schweiz über Regierungsreformen diskutiert. So war in den letzten Jahren oft von einer Vergrösserung des Bundesrates von sieben auf neun Mitglieder die Rede. Rund um die Vernissage des Buches «Der Bundesrat» haben sich gleich drei Alt-Bundesrats-Mitglieder dazu geäussert: Adolf Ogi möchte gerne einen Bundesrat mit 11 oder gar 13 Mitgliedern sehen. Ruth Dreifuss hingegen plädiert für ein kleineres exekutives Gremium mit 5 Mitgliedern, unterstützt von Ministern und Staatssekretären. Doris Leuthard schlägt eine Reduktion auf sogar nur 3 Bundesräte vor.
Immer wieder aktuell ist auch die Debatte um eine Reform des Ständerates sowie des doppelten Mehrs bei den Volksabstimmungen. In beiden Fällen sind die kleinen Kantone überproportional stark vertreten. Seit Jahren zirkuliert mindestens ein Dutzend Vorschläge, verfasst von Politologen oder Politikern, die das Problem mit unterschiedlichen mathematischen Formeln zu lösen versuchen.
Realpolitisch müssen wir aber feststellen, dass die vorgeschlagenen Lösungen kaum mehrheitsfähig sind. Es ist de facto unmöglich, den kleinen Kantonen einen Teil ihrer Macht wegzunehmen, ohne ihnen etwas dafür zu geben. So wurde zum Beispiel die Kantonsklausel, nach der aus demselben Kanton nur ein Bundesratsmitglied gewählt werden durfte, im Februar 1999 nach 150 Jahren nur deshalb gekippt, weil sie durch eine regional-sprachliche (wenn auch nicht verbindliche) Regel ersetzt wurde.
Man sollte sich einmal in einen Urner hineinzuversetzen versuchen, um zu verstehen, warum die direkte Demokratie für die Einwohnerinnen und Einwohner der kleinen Kantone eine oft ungeahnte und unterschätzte Radikalität mit sich bringt. Erstens ist es dank der Volksinitiative möglich, eine nationale Lösung für lokale Probleme vorzuschlagen und diese eventuell auch durchzusetzen. Damit werden das Subsidiaritätsprinzip und die kantonale Autonomie langsam ausgehöhlt. Zweitens gewinnt bei fakultativen Referenden immer die absolute Mehrheit der Stimmenden, als ob die Schweiz eine république une et indivisible nach französischem Muster wäre. Für ein föderales Land mit vielen Minderheiten scheint das ungeeignet. Aus dieser Perspektive bilden Doppelmehr und Ständerat immerhin ein Mittel, das die Frustration der kleinen Kantone dämpft. Trotzdem sehe ich einen Reformbedarf, so dass künftig das Übergewicht eines kleinen Kantons gegenüber dem grössten Kanton nicht etwa 1:40, sondern nur (aber immerhin!) 1:20 betragen würde.
Reformen kann man aber nicht gegen Bürgerinnen und Bürger, sondern nur mit ihnen durchbringen. Wer soll sie anstossen? Wegen Interessenkonflikten sind Politiker oder Parteien dafür kaum geeignet. Die Vertreter der CVP oder der FDP, auch diejenigen aus den grossen Kantonen, werden zum Beispiel sicher nicht eine Reform initiieren, die ihre überproportionale Macht im Ständerat infrage stellen würde.
Für institutionelle Reformen brauchen wir einen anderen Ansatz. Ein Bürgerrat, zusammengesetzt aus etwa 100 bis 200 ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern, soll während einer bestimmten Zeit über Reformen beraten. Die Selektion dafür erfolgt über das reine, urdemokratische Losverfahren. Da aber die Teilnahme freiwillig ist, soll ein zweites Los mit Quoten kombiniert werden und dafür sorgen, dass der Bürgerrat ein Spiegelbild der Gesellschaft wird. Das Ziel ist, dass er eine möglichst breit abgestützte Lösung vorschlägt, die vom Parlament übernommen und später dem Volk und den Ständen via ein obligatorisches Referendum unterbreitet wird.
Es ist kein Zufall, dass ausgeloste Bürgerräte in unserer Zeit immer häufiger zum Einsatz kommen, um gerade über die institutionellen Reformen zu beratschlagen. In den kanadischen Provinzen British Columbia und Ontario wurden sie etwa für eine Reform des Wahlsystems einberufen. Die Ergebnisse wurden dem Volk via Referendum unterbreitet. Ähnliche Erfahrungen haben auch Island und Irland gemacht.
Man könnte meinen, die Schweiz ticke da anders, sie brauche keine zusätzlichen Kanäle für die politische Teilhabe, da ihre Bürgerinnen und Bürger wie sonst kaum irgendwo auf der Welt mitentscheiden dürfen. Wir sollten, so heisst es oft, lieber darauf schauen, dass wir sie nicht weiter überfordern und versuchen, ihre chronisch tiefe Stimmbeteiligung zu erhöhen.
Das Gegenteil ist wahr! Unsere Erfahrungen mit dem Bürgerpanel «demoscan» in Sion (2019) sowie mit dem «Forum Citoyen» im Kanton Genf (2020/2021) zeigen, dass die Bereitschaft zur freiwilligen Teilnahme unter den ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern etwa doppelt so hoch ist wie bei ähnlichen Experimenten im Ausland. Ein erfreulicher Befund dabei ist, dass die Mehrheit der Freiwilligen Frauen sind.
Nenad Stojanović, 44, ist SNF-Professor für Politikwissenschaft an der Universität Genf. Sein Schwerpunkt liegt bei der Demokratieforschung, insbesondere bei Innovationen, die das Losverfahren einsetzen. Sein neustes Buch «Multilingual Democracy: Switzerland and Beyond» erscheint 2021 bei ECPR Press.